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Warum zeichne ich Akt? Eine komplexe Frage; ebenso gut könnte man mich fragen, wer ich bin.

Der Mensch ist mein Thema, ich versuche dem Menschsein auf den Grund zu gehen, immer schon: Ich werde Ärztin, schaue mit dem Blick der Naturwissenschaft auf den Menschen, lerne die Grenzen der Wissenschaft kennen. Mystisch ist es, dass man die letzten Antworten nicht findet. Die Grenzen freuen mich, weil sie Freiheiten eröffnen. Hinter den Grenzen muss etwas sein, sonst gäbe es sie nicht. Was? Für mich ist es das Zeichnen. Das Zeichnen ist die logische Fortsetzung meiner Suche nach Erkenntnis über die menschliche Natur, mit anderen Mitteln und mit anderem Blick.

Zeichnen heisst Linien setzen, Striche machen. Das Gefüge der Striche erzählt die Geschichte. Auch Striche sind Grenzen, durch die ein Aussen und ein Innen entstehen. Bei der Zeichnung wird dieses duale System aber aufgelöst, weil das Bild seine Aussage nur durch das Ganze erhält. Das Ausserhalb spricht seine Sprache genauso wie das Innerhalb. Erst im Zusammenspiel der beiden Elemente erhellt sich die Geschichte. Für mich bedeutet das, dass die Platzierung meiner Figuren auf dem Papier eine wichtige Rolle spielt. Die Zeichnungen arbeiten mit den Leerräumen ausserhalb der Figur, aber auch mit den Freiräumen in der Figur selbst. Das können Weglassungen sein oder auch Betonungen, ein Strich kann sich auflösen im Nichts oder eine Schwärze den Blick fokussieren. So entstehen Abstrahierungen des Körpers, die Figur zeigt sich mehr durch ihre Ausstrahlung als durch ihre konkrete Begrenzung und Formung durch die Linie. Im besten Fall komme ich der Seele der Figur auf die Spur.

Ich arbeite mit Modellen, Menschen, nackten Menschen. Durch das Modell ist es vorgegeben, in welchem Kosmos ich mich befinde. Ich kann nur zeichnen, was das Modell mir feinstofflich zeigen will, und was ich persönlich als Spiegel davon reflektieren kann. Ich nehme auf, was mir der Körper sagt. Mich interessiert das Modell im Ausdruck seines Körpers und seiner Aura. Es geht mir um die Reduktion auf die Kreatürlichkeit des Menschen. Trotz grosser Abstraktion weiss ich nach Jahren noch, welche Zeichnung zu welchem Modell gehört, weil ich den Ausdruck und die Ausstrahlung des jeweiligen Modells erkenne.

Ich zeichne ohne Bewertung und Definition, es zählt nur die tiefe Verbundenheit mit meinem Gefühl für den Moment. Es sind kurze Momente von Einheit mit dem nackten Dasein; Meine Werkzeuge sind Papier, Kreide oder Kohle, Wasser, Gouache oder Tusche und Pinsel. Diese Reduktion des Materials korreliert mit der Nacktheit des gezeichneten Körpers. Es gibt kein Vertuschen und kein Korrigieren, Strich und Körper sind verbunden in ihrer Verwundbarkeit.

Farbe setze ich oft sehr viel später ein. Mit der Kolorierung verändert sich die Zeichnung, die Farbe ist die Weiterführung der Skizze, dabei geht es mir um die Verstärkung der Aussage oder auch um eine neue Ausrichtung. Ich arbeite mit leicht gebundenen Pigmenten, weil ihr Ausdruck sehr direkt ist. Der Duktus des Pinsels wird durch das Material des Pigments verstärkt. Es beinhaltet gleichzeitig Strich und Fläche.

Der Strich, die Linie, das Pigment – der nackte Körper, alles so direkt und ungefiltert, berührend und berührt: Ich zeichne Akt, weil ich nicht erzählen kann, was ich sehe und es doch so gerne möchte, weil es tief menschlich und unglaublich kostbar ist.